Kommunisten waren immer schon Internationalisten. Karl Marx und Friedrich Engels schlossen das Kommunistische Manifest mit den beschwörenden Worten: „Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!“ Dieser Leitspruch prangte auch auf den Bannern der Ersten, Zweiten und Dritten (Kommunistischen) Internationale.
von Niklas Albin Svensson. Dieser Artikel erschien zuerst im Theoriemagazin Nr. 14 (Der Kampf für die Weltrevolution) und ist auch in der Broschüre Kommunismus vs. Stalinismus enthalten.
Das internationalistische Prinzip stand im Zentrum der Ideen von Lenin und der Oktoberrevolution. Vor hundert Jahren aber, im Herbst des Jahres 1924, stellte Stalin dem seine Theorie vom „Sozialismus in einem Land“ entgegen. Sie markierte eine grundlegende Abkehr vom Marxismus und legte die theoretische Grundlage für den Zerfall und schließlich die Auflösung der Kommunistischen Internationale im Jahr 1943.
Die Auswirkungen dieser falschen Theorie spüren wir noch heute. Eine neue Generation wendet sich den Ideen des Kommunismus zu und es ist unerlässlich, dass wir die wahre, internationalistische Tradition von Marx, Engels und Lenin verstehen und verteidigen.
Internationalismus
Der marxistische Internationalismus ist nicht nur eine rhetorische Figur oder ein moralisches Prinzip; er spiegelt eine objektive Notwendigkeit wider.
Marx und Engels haben immer betont, dass der Kommunismus nicht einfach eine gute Idee ist, die man der Welt überstülpt. Vielmehr erklärten sie, dass die Grundlage des Kommunismus in den realen, materiellen Bedingungen liegt, die im Kapitalismus bestehen.
Zu diesen Bedingungen gehört in erster Linie die Tatsache, dass der Kapitalismus ein globales System ist. Jedes Land ist in den Weltmarkt eingebettet und wird von ihm beherrscht. Für Marxisten ist das eine grundlegende Wahrheit. Durch den Weltmarkt wird die Produktion selbst global. Fabriken im einen Weltteil produzieren Waren und verwenden dabei Rohstoffe aus einem anderen Teil und Maschinen, die wiederum in einem anderen Teil hergestellt werden.Der Produktionsprozess umfasst Zehn- oder sogar Hunderttausende von Arbeitern mit spezifischen Kenntnissen und Fähigkeiten und Rohstoffe aus der ganzen Welt. Diese zunehmende Verflechtung der Weltwirtschaft war zu Marx‘ Zeiten bereits in Ansätzen vorhanden. Marx und Engels schrieben im Kommunistischen Manifest:
„An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“[1]
Die Bourgeoisie errichtete den Nationalstaat gegen die Engstirnigkeit und lokale Beschränktheit der feudalen Ordnung und überwand die Schranken, die das lokale Lehenswesen der Entwicklung der Produktivkräfte auferlegte. In dieser Hinsicht spielte sie eine fortschrittliche Rolle. Aber in den letzten 150 Jahren hat sich auch der Nationalstaat als unzureichend erwiesen. Er ist zu einem massiven Hindernis für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte geworden und hemmt den Fortschritt der Menschheit.
Das Aufkommen des modernen Imperialismus spiegelt diesen Widerspruch zwischen dem im Kapitalismus internationalen Charakter von Produktion und Austausch einerseits und dem bürgerlichen Nationalstaat andererseits wider.
In seinem Buch Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus erklärte Lenin, wie die Entwicklung der kapitalistischen Produktion zur Vorherrschaft gigantischer, transnationaler Monopole und Banken geführt hat, die alle nach der Weltherrschaft streben – von der Rohstoffgewinnung bis zur Eroberung von Märkten und Investitionsfeldern. Auf diese Weise „überwindet“ der Kapitalismus teilweise die Begrenztheit des Nationalstaates und verschärft gleichzeitig die Widersprüche des Gesamtsystems in unerträglichem Ausmaß. Das Ergebnis sind schreiende Ungleichheit, tiefe Krisen und imperialistische Kriege.
Die Monopolisierung des Weltmarkts und die sich über die ganze Welt ausbreitenden Lieferketten zeigen, dass die Produktivkräfte weit über die nationalen Märkte hinausgewachsen sind. Sie werden zunehmend durch die Grenzen, die die Nationalstaaten voneinander trennen, eingeengt. Die so genannte „Globalisierung“, d.h. die Ausweitung des Freihandels, war ein Versuch, genau diese Beschränkung zu überwinden.
Das ist wichtig für Kommunisten, weil eine kommunistische Gesellschaft nur auf der Grundlage der höchsten Entwicklung der Produktivkräfte errichtet werden kann, die im Kapitalismus erreicht wurde, und das kann nur im internationalen Maßstab geschehen. Marx und Engels formulierten in der Deutschen Ideologie:
„[D]iese Entwicklung der Produktivkräfte (womit zugleich schon die in weltgeschichtlichem, statt der in lokalem Dasein der Menschen vorhandene empirische Existenz gegeben ist) [ist] auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müsste.“[2]
Nur durch die Erhöhung der Arbeitsproduktivität könnte der Arbeitstag verkürzt und der Arbeiterklasse ermöglicht werden, sich voll am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Das ist die notwendige materielle Voraussetzung für die Abschaffung der Klassengesellschaft.
Eine der Hauptaufgaben der sozialistischen Revolution besteht daher gerade darin, die Produktivkräfte aus der Zwangsjacke des Nationalstaates zu befreien, sei es durch das Teilen von wissenschaftlichen Erkenntnissen, technischem Fachwissen oder Waren. Das würde eine echte Zusammenarbeit zwischen Arbeitern, Wissenschaftlern und Wirtschaftszweigen auf der ganzen Welt ermöglichen:
„Die allseitige Abhängigkeit, diese naturwüchsige Form des weltgeschichtlichen Zusammenwirkens der Individuen, wird durch diese kommunistische Revolution verwandelt in die Kontrolle und bewusste Beherrschung dieser Mächte, die, aus dem Aufeinander-Wirken der Menschen erzeugt, ihnen bisher als durchaus fremde Mächte imponiert und sie beherrscht haben.“[3]
Sie erklären weiter, dass die im Kapitalismus bereits erreichte Entwicklung der Produktivkräfte „jedes [Volk] von den Umwälzungen der andern abhängig macht.“[4]
Anders gesagt: Der Internationalismus ist wesentlich für die Rolle der Arbeiterklasse in der Geschichte und es kann nicht anders sein. Als Marx und Engels davon gesprochen haben, dass die Arbeiter kein Vaterland haben, dann ist es das, was sie gemeint haben.
Im Kommunistischen Manifest, dem Gründungsdokument der kommunistischen Bewegung, finden wir folgende Stelle:
„Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse.
Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen. Vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder, ist eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung.“[5]
Der Grund dafür liegt nicht nur darin, die unvermeidlichen Blockaden und Militärinterventionen der feindlichen kapitalistischen Länder zu durchbrechen, sondern vor allem: Dass es für den Aufbau selbst der „ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft“ – gewöhnlich als Sozialismus bezeichnet – die modernsten im Kapitalismus entwickelten Produktivkräfte braucht, die von Natur aus international sind. Das ist im Wesentlichen die Position des Marxismus und heute noch hundertmal mehr wahr als zu der Zeit, als das Kommunistische Manifest geschrieben wurde.
Die „permanente“ Revolution
Das bedeutet keineswegs, dass sich die Arbeiter in mehreren Ländern genau zur gleichen Zeit erheben und die Macht übernehmen müssen. Die sehr reale Existenz von Nationalstaaten mit ihren jeweils eigenen nationalen Klassenkämpfen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen bedeutet, dass die Arbeiter nicht in allen Ländern auf einmal die Macht erobern werden, sondern zunächst die herrschende Klasse in einem einzigen Land besiegt werden wird.
Marx und Engels schrieben im Kommunistischen Manifest:
„Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muss natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.“[6]
Marx und Engels merkten auch an, dass die Arbeiter in einem relativ rückständigen Land vor den Arbeitern in den fortgeschrittensten Ländern die Macht übernehmen könnten. Für den Aufbau des Sozialismus wäre es jedoch absolut notwendig, dass sich die Revolution auf andere Länder und vor allem auf das fortgeschrittenste kapitalistische Zentrum ausbreitete.
1850 sprach Marx in Namen der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten über die künftige Revolution in Deutschland, wo ein großer Teil der Arbeiterklasse noch unter dem Zunftwesen arbeitete und in Dutzenden von halbfeudalen Kleinstaaten verteilt war:
„Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch … zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, dass die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und dass wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind.“[7]
Marx sprach davon, die Revolution „permanent“ zu machen, und meinte, die Revolution von den bürgerlich-demokratischen Aufgaben (im Falle Deutschlands etwa die nationale Einigung) zu den sozialistischen Aufgaben zu führen – die Enteignung der Bourgeoisie und die Eroberung der Staatsmacht – und sie dann von einem Land zum nächsten zu verbreiten.
Die Russische Revolution
Für die Revolutionäre in Russland waren die Bedingungen der Rückständigkeit eine Herausforderung. Wie ließ sich die allgemeine Erkenntnis, dass der Sozialismus auf den am weitesten entwickelten Produktivkräften aufbauen muss, auf Russland anwenden? Es war klar, dass Russland, auf sich gestellt, nicht für den Sozialismus bereit war.
1905 hat Trotzki die Antwort auf diese Frage skizziert, im Einklang mit der von Marx vorgezeichneten revolutionären Strategie. In einem Kommentar zur Entwicklung des Weltkapitalismus, der die Erde in einen einzigen wirtschaftlichen und politischen Organismus verwandelt hat, erklärte Trotzki:
„Das verleiht den sich entwickelnden Ereignissen von Anfang an einen internationalen Charakter und eröffnet eine große Perspektive: die politische Emanzipation, geleitet von der Arbeiterklasse Russlands, hebt diese ihre Führerin auf eine in der Geschichte bisher unbekannte Höhe, legt kolossale Kräfte und Mittel in ihre Hand, lässt sie die weltweite Vernichtung des Kapitalismus beginnen, für die die Geschichte alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat.“[8]
Das heißt: Trotz der Rückständigkeit, die in Russland vorherrschte, waren die Voraussetzungen für den Sozialismus global gesehen da. Die russischen Arbeiter könnten daher die Weltrevolution beginnen, die dann in Europa vollendet werden könnte. Trotzkis Strategie brachte also die Reife der Weltwirtschaft für den Sozialismus mit den unterschiedlichen Entwicklungsstufen und -tempos des Klassenkampfes in den verschiedenen Ländern und insbesondere in Russland in Einklang.
Unter dem unerträglichen Druck des Ersten Weltkriegs zerbrach der Kapitalismus an seinem schwächsten Glied: dem Zarenreich. Im Februar 1917 brach eine Revolution gegen den Krieg und die Autokratie aus, und der Zar wurde durch eine bürgerlich-demokratische „Provisorische Regierung“ ersetzt. Gleichzeitig bildeten die Arbeiter und Soldaten ihre eigenen revolutionären Räte, oder auf Russisch: „Sowjets“.
Die Partei der Menschewiki, die damals von der Mehrheit der russischen Arbeiter unterstützt wurde, trat in die Provisorische Regierung ein und behauptete, dass die Arbeiter nun die Aufgabe hätten, die Schaffung eines demokratischen Staates zu unterstützen und nicht um die Macht kämpfen sollten.
Sie begründeten diese Politik damit, dass Russland zu rückständig sei, um den Aufbau des Sozialismus anzugehen. Deshalb, so sagten sie, könne nur die Bourgeoisie die Macht übernehmen. Erst dann würde Russland nach einer langen, unbestimmten Zeit der kapitalistischen Entwicklung endlich reif für eine sozialistische Revolution sein. In der Praxis bedeutete das, die schwache und degenerierte russische Bourgeoisie zu verteidigen, den imperialistischen Krieg zu unterstützen, die Landreform aufzuhalten und die Entwaffnung der Arbeiter vorzubereiten. Kurzgesagt, die Menschewiki stellten sich in das Lager der Konterrevolution.
Diesem Verrat an der Arbeiterklasse stellte Lenin die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ entgegen. Das bedeutete nichts anderes als die Machtergreifung durch die Arbeiter und Bauern und den Sturz des bürgerlichen Staates. Im April 1917 erklärte Lenin:
„Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Russland besteht im Übergang von der ersten Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend entwickelten Klassenbewusstseins und der ungenügenden Organisiertheit des Proletariats der Bourgeoisie die Macht gab, zur zweiten Etappe der Revolution, die die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft legen muss.“[9]
Mit dieser Perspektive gewann die Partei der Bolschewiki die Mehrheit in den Sowjets und die Arbeiter eroberten im Oktober unter der Führung von Lenin und Trotzki die Macht.
Aber weder Lenin noch Trotzki waren über Nacht Idealisten geworden, die glaubten, sie könnten durch die Machteroberung in Russland den Sozialismus ohne die notwendigen materiellen Voraussetzungen aufbauen. Sie waren sich genau bewusst, dass ihr Programm nur im Zusammenhang mit der Weltrevolution Sinn vernünftig war.
In einer Resolution („Resolution über die gegenwärtige Lage“) stellte Lenin auf der entscheidenden Aprilkonferenz der Bolschewiki die Russische Revolution in ihren internationalen Kontext:
„Die russische Revolution ist nur die erste Etappe der ersten unter den proletarischen Revolutionen, die der Krieg unausbleiblich erzeugt.“[10]
Im Geiste des Internationalismus gründete die Russische Kommunistische Partei zusammen mit Delegierten aus 33 anderen Ländern im März 1919 die Kommunistische Internationale. Sie wurde gegründet, um die Weltrevolution über die Grenzen des neuen Arbeiterstaates hinaus auszubreiten.
Im selben Jahr verteidigte Lenin in seiner Polemik „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“ die unverfälschte internationalistische Position gegenüber dem imperialistischen Krieg:
„Ist der Krieg ein reaktionärer, imperialistischer Krieg … [ist] meine Aufgabe, die Aufgabe eines Vertreters des revolutionären Proletariats, die proletarische Weltrevolution vorzubereiten als einzige Rettung vor den Schrecken des Weltgemetzels. Nicht vom Standpunkt „meines“ Landes darf ich urteilen (denn so urteilt ein kläglicher Dummkopf, ein nationalistischer Spießer, der nicht versteht, dass er ein Spielzeug in den Händen der imperialistischen Bourgeoisie ist), sondern vom Standpunkt meiner Teilnahme an der Vorbereitung, der Propagierung, der Beschleunigung der proletarischen Weltrevolution.“[11]
Lenin bereitete also nicht nur die Revolution in Russland, sondern auf der ganzen Welt vor. Er fährt fort:
„Die Taktik der Bolschewiki war richtig, … denn sie basierte nicht auf der feigen Furcht vor der Weltrevolution, nicht auf dem kleinbürgerlichen „Unglauben“ an sie … sie beruhte auf der richtigen (vor dem Krieg, vor dem Renegatentum der Sozialchauvinisten und Sozialpazifisten allgemein anerkannten) Einschätzung der europäischen revolutionären Situation. Das war die einzig internationalistische Taktik, denn sie bewirkte ein Höchstmaß dessen, was in einem Lande für die Entwicklung, Unterstützung und Entfachung der Revolution in allen Ländern durchführbar ist.“[12]
Und tatsächlich folgte eine revolutionäre Welle auf die Russische Revolution, in Deutschland, Italien, Österreich-Ungarn und anderen Ländern. Allerdings gelang es der herrschenden Klasse und der Sozialdemokratie, die Bewegung entweder zu zerschlagen oder in sicherere Bahnen zu lenken.
Bis ihn seine Krankheit zuletzt niederrang, beharrte Lenin darauf, dass der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion ohne den Sieg der sozialistischen Revolution im Ausland, insbesondere in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, unmöglich sei. In „Lieber weniger, aber besser“ (1923) schrieb er:
„Der allgemeine Zug unseres Alltagslebens ist jetzt folgender: Wir haben die kapitalistische Industrie zerschlagen, haben alles getan, um die mittelalterlichen Einrichtungen, den gutsherrlichen Grundbesitz auszurotten, und haben auf diesem Boden eine Klein- und Zwergbauernschaft hervorgebracht, die dem Proletariat folgt, weil sie Vertrauen zu den Ergebnissen seiner revolutionären Arbeit hat. Mit diesem Vertrauen jedoch bis zum Sieg der sozialistischen Revolution in den höherentwickelten Ländern durchzuhalten, ist für uns nicht leicht, denn die Klein- und Zwergbauernschaft hält sich, insbesondere unter der NÖP [Neue ökonomische Politik], kraft ökonomischer Notwendigkeit auf einem äußerst niedrigen Niveau der Arbeitsproduktivität.“[13]
Er fährt fort:
„Uns mangelt es ebenfalls an Zivilisation, um unmittelbar zum Sozialismus überzugehen, obwohl wir die politischen Voraussetzungen dafür haben.“[14]
Wenn Lenin von Schritten auf dem Weg zum Sozialismus in der Sowjetunion sprach, bezog er sich immer auf die Aufrechterhaltung des Arbeiterstaates (die politische Voraussetzung für den Sozialismus), bis die Revolution auf den Westen übergreifen konnte. Der sozialistische Aufbau in der UdSSR und die Weltrevolution waren nicht zwei unterschiedliche, miteinander konkurrierende Positionen, sondern das eine war untrennbar mit dem anderen verknüpft.
Stalin revidiert den Marxismus
Nach Lenins Tod stellte sich die Situation wie folgt dar. Die imperialistischen Mächte hatten es nicht geschafft, die UdSSR zu zerschlagen und den Kapitalismus wieder einzuführen, weil ihre eigenen inneren Krisen und die mächtigen Bewegungen der Arbeiterklasse sie daran hinderten. Das hat ein neues, temporäres und seinem Wesen nach instabiles Gleichgewicht geschaffen.
Die Sowjetunion war durch den Bürgerkrieg, die Abschottung vom Weltmarkt und die extreme wirtschaftliche Rückständigkeit stark geschwächt. Die Arbeiterklasse war geschrumpft und noch kleiner als vor der Revolution, und die Arbeiter taten sich aufgrund ihrer harten Lebensbedingungen schwer, sich voll an den Sowjets zu beteiligen.
Es machte sich brutal bemerkbar, dass die Ausbreitung der Revolution eine wirtschaftliche Notwendigkeit darstellte, insbesondere für diese rückständige Wirtschaft. Der „Streit um das Notwendige“ setzte sich fort, wie Marx es vorhergesehen hatte, und es wurde noch schlimmer.
Die UdSSR musste Zugeständnisse an den Markt machen, um die Produktion anzutreiben. Das war die Neue Ökonomische Politik (NÖP). Lenin argumentierte, dass es – gerade weil das Land so rückständig war – notwendig war, zeitweise zu kapitalistischen Methoden zurückzugreifen, bis die Arbeiterklasse in den fortgeschritteneren Ländern gewonnen hat. Lenin und Trotzki warnten beide kontinuierlich vor den Gefahren, die damit einhergingen.
Die NÖP beschleunigte die Entwicklung der Ungleichheit. Sie bedeutete, dass der Kapitalismus sich in der Landwirtschaft ausbreiten konnte. Das nützte den wohlhabendsten Bauern, den „Kulaken“. In Industrie und Handel entstand eine kleine Klasse von Kapitalisten, die sogenannten „Nepmänner“.
Diese Ungleichheit stärkte auch die staatliche Bürokratie, die den Mangel zu verwalten hatte. Die Bürokratie konnte sich gegen die Arbeiterklasse auf diese bürgerlichen Schichten stützen.
Die Niederlage der deutschen Revolution im Herbst 1923 machte das Problem noch schlimmer. Mit ihr ging die revolutionäre Welle, die auf den Ersten Weltkrieg folgte, zu Ende.
Es trat eine Müdigkeit ein. Zweifel am Programm der Weltrevolution kamen auf, die mit der Erschöpfung der sowjetischen Arbeiter nach drei Jahren Weltkrieg, zwei Revolutionen und drei Jahren Bürgerkrieg zusammenhingen.
Zur selben Zeit starb Lenin, im Jänner 1924. Das eröffnete einer neuen politischen Strömung die Möglichkeit, ans Licht zu treten.
Der Druck fremder Klassen – der reicheren Bauern und der Nepmänner – fand zunehmend eine Widerspiegelung in der Kommunistischen Partei und insbesondere in ihrem rechten Flügel. Nikolai Bucharin war ein Paradebeispiel für diese Strömung.
Er argumentierte, dass man den Sozialismus im „Schneckentempo“ auf einer „miserablen technischen Grundlage“ aufbauen könne, oder anders ausgedrückt: auf einem niedrigen Stand der Produktivkräfte. Das stand im kompletten Gegensatz zur materialistischen Auffassung der Geschichte. Es passte aber perfekt zum Bündnis zwischen den bürgerlichen Schichten und der Bürokratie, die es vor der Arbeiterklasse und der Revolution graute, denn sie erkannten darin zurecht eine Gefahr.
Folgt man diesem Argument, dann wäre es nicht notwendig, sich die Mühen der Weltrevolution anzutun; es gäbe keinen Grund für weitere Verwerfungen, man könne zurück zum „Normalzustand“ gehen. Alles was es für den Sieg des Sozialismus bräuchte, wäre, dass man die Bürokratie arbeiten lässt.
1924 hielt Stalin eine Reihe von Vorträgen vor jungen Parteikadern, die später unter dem Namen „Grundlagen des Leninismus“ als Broschüre veröffentlicht wurden.
In der ursprünglichen Ausgabe vom April 1924 findet man folgende Stelle:
„Zum Sturz der Bourgeoisie genügen die Anstrengungen eines Landes – davon zeugt die Geschichte unserer Revolution. Zum endgültigen Sieg des Sozialismus, zur Organisierung der sozialistischen Produktion, genügen nicht die Anstrengungen eines Landes, zumal eines Bauernlandes wie Russland – dazu sind die Anstrengungen der Proletarier mehrerer fortgeschrittener Länder notwendig.“[15]
Obwohl diese Broschüre im Allgemeinen ein Angriff auf Trotzki und die im Jahr 1923 gegründete Linke Opposition war, enthielt sie immer noch die Position von Marx, Engels und Lenin.
Aber nur ein paar Monate später wurde diese Ausgabe nicht mehr verbreitet und eine neue Version produziert, in der die obige Stelle verändert wurde:
„Aber die Macht der Bourgeoisie stürzen und die Macht des Proletariats in einem Lande errichten heißt noch nicht, den vollen Sieg des Sozialismus sichern. Das Proletariat des siegreichen Landes, das seine Macht gefestigt hat und die Führung über die Bauernschaft ausübt, kann und muss die sozialistische Gesellschaft aufbauen. Bedeutet das aber, dass es damit schon den vollständigen, endgültigen Sieg des Sozialismus erreichen wird, das heißt, bedeutet es, dass das Proletariat mit den Kräften eines Landes allein endgültig den Sozialismus verankern und das Land gegen die Intervention und folglich auch gegen eine Restauration völlig sichern kann? Nein, das bedeutet es nicht. Dazu ist der Sieg der Revolution wenigstens in einigen Ländern notwendig.“[16]
Anstatt den Sozialismus durch die Weltrevolution zu erreichen, soll die Priorität der Arbeiter im Arbeiterstaat (in diesem Fall in der UdSSR) jetzt darin liegen, selber den Sozialismus aufzubauen. Der Kampf für den weltweiten Sturz des Kapitalismus ist noch vorhanden (vorerst), aber jetzt nur mehr, um die sozialistische Gesellschaft vor einer ausländischen Intervention zu schützen.
Stalin erläutert in „Zu den Fragen des Leninismus“, was er an seiner früheren Position zu beanstanden hat:
„Ihr Mangel besteht darin, dass sie zwei verschiedene Fragen zu einer Frage zusammenzieht: die Frage der Möglichkeit der Errichtung des Sozialismus mit den Kräften eines Landes, worauf eine bejahende Antwort gegeben werden muss, und die Frage, ob sich ein Land, in dem die Diktatur des Proletariats errichtet ist, als völlig gesichert gegen eine Intervention … betrachten kann.“[17]
Das marxistische, materialistische Verständnis vom Aufbau des Sozialismus wurde somit herausgeschnitten. Stalin entfernte Verweise auf Russlands Rückständigkeit und die Notwendigkeit, die Revolution in die fortgeschrittenen Länder auszubreiten. Die Organisation einer vollständig sozialistischen Wirtschaft war nun, laut Stalin, nicht nur in einem einzigen Land möglich, sondern sogar in einem, das so rückständig und verarmt war wie das Russland der 1920er Jahre.
Weg mit der Weltrevolution
Stalin gab sogar halb zu, dass er die Position revidierte, als er in den Grundlagen des Leninismus schrieb:
„Früher hielt man den Sieg der Revolution in einem Lande für unmöglich, da man annahm, dass zum Siege über die Bourgeoisie eine gemeinsame Aktion der Proletarier aller fortgeschrittenen Länder oder jedenfalls der Mehrzahl dieser Länder erforderlich sei. Jetzt entspricht diese Ansicht nicht mehr der Wirklichkeit.“[18]
Stalins Argument ist komplett unehrlich und vermischt absichtlich die Frage der Machtübernahme durch die Arbeiterklasse mit der Frage des sozialistischen Aufbaus. Es ging nie darum, ob das Proletariat in einem Land die Macht übernehmen kann. Marx, Engels, Lenin und Trotzki vertraten die Auffassung, dass sich die Revolution von Land zu Land ausbreiten sollte, was voraussetzt, dass sie irgendwo beginnt. Die Frage, die sich stellte, war, ob der Sozialismus mit den materiellen Ressourcen eines Landes allein aufgebaut werden kann. Das war Stalins Revision.
Dieses Strohmannargument wurde dann nach Lenins Tod als Waffe gegen Trotzki und die Linke Opposition eingesetzt. Er behauptete, sie hätten die absurde Idee vertreten, dass die Arbeiter keine Revolution in ihrem eigenen Land machen könnten, wenn sie nicht überall gleichzeitig stattfände. So konnte Stalin dann argumentieren, dass die Russische Revolution ihr Argument widerlegt habe, und dabei konnte er verschiedene Zitate ausgraben, in denen Lenin sich über eine solche Idee lustig machte.
Diese Verzerrung grundlegender Ideen der marxistischen Theorie für fraktionelle Zwecke sollte zu einer tief verwurzelten Tradition des Stalinismus werden.
Stalin argumentierte 1926 sogar auf der 15. Konferenz der KPdSU, dass die Position von Marx und Engels nur für die frühere Phase der kapitalistischen Entwicklung gelte. Ihm zufolge war in der Epoche des Imperialismus mit den scharfen Widersprüchen zwischen den imperialistischen Mächten der Sieg des Sozialismus in einzelnen Ländern durch einen Bruch in der „imperialistischen Front“ möglich. Das stellt die Dinge auf den Kopf. Im Gegenteil, die extreme Verflechtung der modernen Weltwirtschaft zeigt, dass die Analyse des Kapitalismus von Marx und Engels heute noch mehr gilt als zu ihren Lebzeiten.
1928 argumentierte Trotzki, dass die nationale Beschränktheit in der Politik „die Voraussetzung für unausbleibliche national-reformistische und sozialpatriotische Verirrungen in der Zukunft bildet“. Der Lauf der Geschichte gab Trotzki recht.
Die Einführung der revisionistischen Theorie des „Sozialismus in einem Land“ führte zur Preisgabe der Weltrevolution durch die Führung der UdSSR. In ihren Händen wurde die Kommunistische Internationale zu einem bloßen Instrument der Moskauer Außenpolitik. Und 1943 wurde die Internationale als Geste gegenüber den Alliierten aufgelöst. Die von Lenin gegründete Weltpartei der sozialistischen Revolution wurde völlig zerstört.
Heute ist es dringender denn je, eine solide Grundlage für eine neue kommunistische Bewegung zu schaffen, die zum Internationalismus von Marx, Engels, Lenin und Trotzki zurückkehrt. Nur wenn wir die Arbeiterbewegung mit diesen Ideen wieder aufrüsten, werden wir den Sieg der kommunistischen Weltrevolution garantieren können.
[1] Marx-Engels-Werke (MEW) 4, S. 466.
[2] MEW 3, S. 34f.
[3] Ebd., S. 37.
[4] Ebd. S. 35.
[5] MEW 4, S. 479.
[6] MEW 4, S. 473.
[7] MEW 7, S. 247f.
[8] Leo Trotzki (1993): Die Permanente Revolution, Mehring Verlag, S. 239f.
[9] Lenin (1917): Aprilthesen, in LW Bd. 24, S. 4.
[10] Lenin (1917): Resolution über die gegenwärtige Lage, in LW Bd. 24, S. 303.
[11] Lenin (1918): Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, in LW Bd. 28, S. 287.
[12] Ebd. S. 292f.
[13] LW 33, S. 485f.
[14] Ebd., S. 488.
[15] Zit. n. Trotzki (1936): Verratene Revolution, Mehring Verlag, S. 285.
[16] Stalin, Grundlagen des Leninismus, Werke, Bd. 6, S. 58.
[17] Stalin Werke Bd. 8, S. 38.
[18] Stalin Werke Bd. 6, S. 58.